Geschichte der „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. Celle“
Am 9. September 1980 bildete sich der Celler Initiativkreis zur Gründung einer „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“. Er organisierte Veranstaltungen, etwa zu der Frage: „Ist Israel für Deutsche ein Staat wie jeder andere?“ Es diskutierten die damaligen Europaabgeordneten Erik Blumenfeld (CDU) aus Hamburg und Olaf Schwenke (SPD) aus Nienburg.
Der Initiativkreis lud am 27. Oktober 1981 in den Gemeindesaal der Reformierten Kirche in der Hannoverschen Straße ein. 33 Personen beteiligten sich, darunter Lippa Lifschitz, der zusammen mit seiner Frau Lea ein Geschäft in der Bergstraße führte. Die Gesellschaft in Hannover hatte zur Gründungsversammlung solidarisch zwei Mitglieder entsandt. Der erste Vorstand der Celler „Gesellschaft“ bestand insgesamt aus evangelischen Mitgliedern zwischen 32 und 70 Jahren. Damals war noch kein Katholik zum Mitmachen zu gewinnen; und Lippa Lifschitz fühlte sich zu alt und zog bald aus Celle weg.
Um zu verstehen, in welchen theologisch-historischen Zusammenhängen die Celler „Gesellschaft“ ihre Arbeit aufnahm, hier ein kurzer Rückblick. Der „Bruderrat“ der lutherischen Bekennenden Kirche, die versucht hatte, dem Nationalsozialismus zu widerstehen, trat noch 1948 mit einem „Wort zur Judenfrage“ an die Öffentlichkeit. Dort heißt es unter anderem: „Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und Bestimmung verloren. Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche … übergegangen. Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.“
Neues theologisches Nachdenken ließ diese schlimme Stimme nach der Shoah nicht lange unwidersprochen. Der Ökumenische Rat der Kirchen gab bei seiner ersten Vollversammlung 1948 in Amsterdam ein Erklärung ab, in der es heißt: „Der Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und die Menschen. Die Kirchen haben in vergangenen Zeiten dazu geholfen, ein Bild des Juden als alleinigen Feindes Christi entstehen zu lassen, das den Antisemitismus in der säkularen Welt gefördert hat.“
Der evangelische Theologe Rolf Rendtorff stellte dazu fest: „Die sich hier abzeichnende Wende ist ein Ereignis von großer Bedeutung. Zum ersten Mal in der Geschichte der christlichen Kirchen wurde hier die bis dahin herrschende Argumentation gleichsam umgedreht. Die allseits gängigen antijüdischen Klischees wurden plötzlich als falsch und gefährlich erkannt.“ Der Grund für die neuen Einsichten sei in der Erklärung klar zum Ausdruck gekommen: Es war die Shoa.
Als ein anderes wichtiges kirchliches Dokument nennt Rendtorff die Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965. Bemerkenswert sei schon der Beginn dieses theologischen Dokuments: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Testaments mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“ Das sei eine ganz neue Sprache, wie man sie in den zweitausend Jahren der Geschichte der Kirchen „noch nie aus offiziellem Munde gehört hat“, sagte Rendtorff in seiner Bewertung der katholischen Erklärung.
Auf der Basis der genannten evangelischen und katholischen Voten konnte ein neuer, offener Dialog zwischen Christen und Juden bauen. Er wurde von beiden Seiten aufgenommen und weiter entwickelt, aber Antijudaismus und Antisemitismus sind trotz aller Aufklärung und Besinnung der Kirchen längst noch nicht verschwunden.
1997, als Papst Johannes Paul II. die römische Synagoge besuchte, erwachte in breiteren katholischen Kreisen ein neues Bewusstsein für das Judentum, und erst als in Deutschland neue Strukturen für das liberale Judentum entstanden waren, wurde die Celler Synagoge wiederentdeckt. Jetzt gründete sich hier eine Gemeinde, womit der „Gesellschaft“ die ersehnte Partnerin beschert wurde.
Bei der ersten Veranstaltung, die der gewählte Vorstand verantwortete, sprach am 23. Februar 1982 der Hamburger Theologe und Historiker Achim von Borries über „Judentum und Christentum im Denken Leo Baecks“. Dass Leo Baeck als herausragender theologischer Denker und Rabbiner in Deutschland an jenem Februar-Abend virtuell ein neues Leben in der Celler Synagoge einleitete, war prägend für die künftige Arbeit. Leo Baeck, der von 1873 bis 1956 lebte, veröffentlichte 1926 sein Hauptwerk „Vom Wesen des Judentums“. Es war eine zusammenfassende Antwort auf die Theologie des einflussreichen evangelischen Dogmatikers Adolf von Harnack (1851-1930), der die Schrift „Das Wesen des Christentums“ herausgegeben hatte, die seinerzeit weite Verbreitung und große Beachtung fand. Darin bewertete von Harnack das Judentum als mehr oder weniger überholt – eine Abwertung, gegen die Leo Baeck das Judentum bereits 1902 verteidigt hatte.
Bei dem Vortrag über Leo Baecks Theologie lernten wir gleich zu Beginn unserer Arbeit, dass die Auseinandersetzung mit dem Judentum, seiner Geschichte und jüdischer Existenz im einzelnen kritische Fragen an das Christentum und die Deutschen als Volk hervorrufen wird unter religiösen, ethischen und politischen Aspekten, denn Wörter wie „Jude“ oder „jüdisch“ waren in der christlichen Tradition ausschließlich negativ besetzt.
Viele unserer Gäste sorgten für intellektuelle Spannung und je nach Temperament für knisternde Atmosphäre, so Tovia Ben Chorin (Zürich), Joel Berger (Stuttgart), Henry Brandt (Hannover), Edna Brocke (Essen), Albert Friedländer (London), Eveline Goodman-Thau (Jerusalem), Roland Gradwohl (Zürich), Jonathan Magonet (London), Ödön Singer (Budapest), Marc Stern (Osnabrück), und Max Meir Ydit (Landau).
Um Aufmerksamkeit musste der Vorstand in der Celler Öffentlichkeit lange ringen. Für die Celler Bevölkerung war es eben etwas völlig Neues, sich direkt „vor Ort“ mit dem Judentum auseinandersetzen zu können.
Die „Gesellschaft“ hat von Anfang an in ihrem Programm nicht nur über das Judentum als Religion informiert, sondern ging auch auf jüdische Geschichte, Literatur, Musik (Klezmer) und den Staat Israel ein.
In Zusammenarbeit mit der Volkshochschule wurden Reisen in europäische jüdische Zentren angeboten: nach Prag, Amsterdam, Antwerpen, Venedig und Budapest.
Einige unserer jüdischen Gäste äußerten den Wunsch, in Celle Schulen zu besuchen. Unter ihnen befand sich Jizchak Schwersenz, der über den Untergrund-Widerstand junger Juden während der Nazizeit in Berlin berichtete. Auch Sally Perel, der Autor des Buches „Ich war Hitlerjunge Salomon“, berichtete vor Celler Schülern und Schülerinnen über sein ungewöhnliches Schicksal im NS-Deutschland.
Kontakte mit jungen Leuten über Celle hinaus ergeben sich auch bei Führungen in der Synagoge, die von der „Gesellschaft“ bis heute beispielsweise für Schulklassen und Konfirmanden angeboten werden.
1985 lud die Stadt Celle ihre ehemaligen jüdischen Mitbürger nach Celle ein. Auf Zeitungsanzeigen in Israel und in den USA meldeten sich ungefähr zwei Dutzend Personen, die Mitte 1985 nach Celle kamen. Daraus entstanden für die „Gesellschaft“ beziehungsweise einige ihrer Mitglieder nachhaltige Verbindungen.
Kurt Walter Roberg gehörte damals zu den Gästen. Sein Buch „Zwischen Ziegeninsel und Stadtgraben“, in dem er seine Jugend als Kind einer Celler jüdischen Familie schildert, wurde 2005 in der Synagoge vorgestellt.
Am 9. November 1988 zog die Synagoge anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht symbolisch in die Stadtkirche um, die an diesem Tag bis auf den letzten Platz besetzt war. An der Veranstaltung, die auf Anregung der „Gesellschaft“ stattfand, beteiligten sich die Stadt, der Landkreis und die Kirchen gemeinsam als Gastgeber.
Um Sponsoren haben wir uns mehrmals erfolgreich bemüht, so konnten auf dem aktuellen Buchmarkt und in Judaica-Antiquariaten Bücher aus der jüdischen Geisteswelt und über jüdische Kultur erworben werden, die sich heute als Präsenz-Bibliothek im Celler Stadtarchiv befinden, darunter auch der vollständige Talmud.
Die Auseinandersetzung und Begegnung mit jüdischen Autorinnen und Autoren riefen besonderes Interesse hervorriefen. Beeindruckende Veranstaltungen waren z.B. die mit Raphael Seligmann, Carlotta Marchant, Barbara Honigmann, Gabriel Laub, Günter Kunert, Wolf Biermann, Ruth Klüger, Günther B. Ginzel, Schalom Ben Chorin, Heinz Knobloch, Elazar Benyoetz, Pinchas Lapide und Arno Lustiger.
Lyrikabende widmeten sich dem Werk von Heinrich Heine, aber auch vielleicht weniger populären Lyrikerinnen und Lyrikern, etwa Rose Ausländer, Paul Celan, Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, Ossip Mandelstam, Erich Mühsam und Karl Wolfskehl sowie den jiddischen Dichtern Itzig Manger und Abraham Sutzkever.
Mit dem Wechsel in der Leitung des Celler Stadtarchivs um 1990 kam es zu einem großen kreativen Aufbruch, was das Thema Synagoge betrifft. Brigitte Streich und Sabine Maehnert gestalteten die Dokumentation über jüdische Geschäfte in Celle völlig neu und präsentierten sie als Dauerausstellung.
Die Stadt Celle baute bisher ungenutzte Räume an der Synagoge um, sodass ein Kabinettmuseum eingerichtet werden konnte, in dem seither zahlreiche Ausstellungen präsentiert wurden. Die Forschungen über jüdisches Leben in Celle fanden ihren Niederschlag in mehreren Publikationen, an denen Autoren aus dem Kreis der „Gesellschaft“ beteiligt waren. Die Stolperstein-Aktion wurde auch von vielen Bürgern unterstützt, die nicht Mitglieder der „Gesellschaft“ sind. Inzwischen hat Gunter Demnig, der Kölner Erfinder der Aktion, in Celle 58 Steine zum Gedenken an Celler Juden und Jüdinnen verlegt.
Mit dem Einzug der liberalen jüdischen Gemeinde in die Celler Synagoge 1997 konnte in Person der Vorsitzenden Dorit Schleinitz endlich auch ein jüdisches Mitglied in den Vorstand der „Gesellschaft“ berufen werden.
Joachim Piper, erster Vorsitzender von 1981 bis 1997
Pastor Michael Stier, erster Vorsitzender von 1997 bis 2016
Der Rückblick wurde verfasst von Joachim Piper, Sprecher des Initiativkreises 1980 und Erster Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e. V. Celle von 1981- 1997, 2016 überarbeitet von Dr. Monika Gödecke.